Citizen 2.0
S-Bahn-Fahrten
Sommer 1998
Wir fahren zu Dritt zum ersten mal zur Uni, um uns zu immatrikulieren. Eine Frau mittleren Alters steuert während der Fahrt zielstrebig auf uns zu und will uns Bücher schenken. Über Astrologie oder so. Wir werden nach unseren Geburtsdaten gefragt, worauf hin sie versucht jedem etwas schlaues zu sagen. Mir sagte sie "du wirst predigen".
irgendein Sommer zwischen 2000 und 2002
Der junge Kerl sitzt schräg gegenüber, direkt neben der Tür zum nächsten Waggon. Er hängt da so schlaff, halb auf dem Gang, halb auf dem Sitz, daß man sich wundert, wieso er nicht zu Boden fällt. Die Türe blockiert er so auch, aber die Menschen drücken ihn mit der Türe sanft zur Seite. Irgendwann fällt mir auf, dass seine Hose durchnäßt ist, vom Schritt die Hosenbeine runter. Zu seinen Schuhen bildet sich eine Pfütze. Am nächsten Hauptbahnhof schlurft er schlaff und schwankend nach draußen.
irgendein Sommer zwischen 2000 und 2002
Der junge Mann kommt hektisch in den Waggon, geht zu jedem Mülleimer, der sich an jeder Sitzgruppe befindet, reißt den Mülleimer auf, schaut rein, wühlt drin rum, wirft ihn wieder zu und läuft hektisch zum nächsten. Einen Mülleimer nach meinem Sitzplatz findet er was, greift es sich, stopft es sich hektisch in den Mund und geht kauend zum nächsten Mülleimer. Nachdem er alle Mülleimern durchsucht hat geht er in den nächsten Waggon.
irgendein Sommer zwischen 2000 und 2002
Der wirklich übel stinkende Obdachlose liegt auf dem Sitz. Alle versuchen mit gerümpfer Nase und angeekeltem Blick an ihm vorbei zu kommen. Als er später aussteigt bleibt der Geruch, am Boden schwappt eine Pfütze aus Fäkalien.
Anfang 2006
Der besoffene Mann sitzt nachmittags in der vollen Bahn hinter mir. Er redet sich seinen Frust von der Seele, mit russischem Akzent, teilweise auch auf russisch. Er erzählt allen im Waggon wie Scheisse die Deutschen, die Nazis sind, Russland ist um vieles besser, Russland wird der Scheiss-Merkel schon zeigen, dass diese Scheiss-Fotze nichts taugt. Dazu ruft er irgendwelche russischen Parolen.
21.05.2008
Er ältere Mann kommt ins Abteil gewankt, setzt sich, steht etwas später wieder auf, läuft umher, schaut Leute an, setzt sich auf der anderen Seite und haut während der ganzen Zeit seine rechte Hand gegen sein Kinn und nuschelt unverständliches Zeug. Er redet und redet und irgendwann versteh ich ihn plötzlich. "Helft mir, helft mir, ich will mich nicht schlagen, ich will mich nicht schlagen! Hilfe! Wer kann mir helfen? Wer ist so gut? So helft mir doch, helft mir doch, helft mir doch, wer ist so gut?" Seine Stimme wird weinerlich, er schluchzt, er schlägt sich kräftiger. "Bitte, helft mir doch, ich will mich nicht schlagen, so helft mir doch, wer ist so gut, wer ist so gut..." Er steigt mit kleinen Trippelschritten am nächsten Hauptbahnhof aus, läuft verwirrt auf dem Bahnsteig umher bis er langsam die Treppe runtergeht und sich mit der bis grade schlagenden Hand am Geländer festhält.

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